Sam Reloaded

Nachdem „Splinter Cell: Conviction“ die Fans auf die Palme brachte, einfach weil dieser Teil so gar nicht in die Reihe, ins Feeling, ja gar ins eigentliche Genre passen wollte, wusste Ubisoft, dass man mit dem neusten Teil namens „Blacklist“ gehörig ranklotzen muss, um die Fangemeinde zufrieden zu stellen und verlorene Sympathie zurück zu erobern. Tja, und was soll ich sagen: Das hat sogar geklappt … ja, echt, ungelogen, ausnahmweise mal ernst gemeint!

Der dauernörgelnde IVI hat, wie bekannt und wie schon daran zu erkennen, dass er von sich in der 3. Person schreibt, aber natürlich einiges auch an Blacklist auszusetzen, auch weil er sich mal wieder darin bestärkt sicht, trocken zu behaupten, dass Computerspiele eigentlich gar nicht soooo kompliziert zu programmieren sind. Ein klassisches Problem der Programmierer besteht darin, den geübten Spieler herauszufordern und nicht nur die Einsteiger und Neulinge ins Schwitzen zu bringen. Ein klassisches Detailproblem besteht darin, dass die Können eines einfach sehr gut beherrschen: den Headshot. Er istbei allen beliebt, außer natürlich bei den Opfern, und sowohl effizient als auch effektiv. Er bringt aber ein Problem mit sich: Er ist ein KI-Killer. Wo es sonst eine knifflige zu lösende Aufgabe ist, 3 Gegner schnell und leise auszuschalten, sorgt der Headshot für Ruhe – schnell! Was macht man da als Programmierer? Man kann die Steuerung unpräzise gestalten, dies taten die Verantwortlichen aber glücklicher Weise nicht, man kann an der Schwierigkeitsschraube drehen und die Gegner wachsamer, geistig flinker machen, das taten die Programmierer leider nicht, man kann aber auch auf eine schlaue Idee kommen, eine Idee namens „Helm“. Ein Helm ist eine tolle Erfindung, er schützt im Straßenverkehr, auf dem Bau und im Krieg – naja, vielleicht nicht so ganz, denn wenn man mit panzerbrechender Munition schießt, sollte man den Helm nicht vom Gegnerkopf schießen können, sondern ihn durchdringen. Dies aber haben die Programmierer nicht verstanden. Egal mit welcher Wumme, egal mit welcher Muni – die Kugel durchschlägt nicht den Helm – klassisches „FAIL!“ könnte man sagen, nein, muss man sagen. Spätestens wenn man aber ein Sturmgewehr nutzt, erledigt sich das Problem des schnellen Kills mehrerer Gegner, großartig viel Finesse muss dann nicht an den Tag gelegt werden.

Finesse ist auch nicht unbedingt eine Stärke der Gegner, denn Finesse braucht eines unbedingt: ein hohes Niveau an Wahrnehmung und Verarbeitung der gewonnenen Eindrücke. Beides beherrschen die Gegner nicht, warum in einem Gang plötzlich 2 Helme und Knarren rumliegen, die Besitzer aber verschwunden sind, an der Wand Blut klebt und komischer Weise alle Lichter aus sind, stellt für die Gegner keinen Grund, die graue Masse unter der Schädeldecke zu aktivieren. Vor vielen Jahren gab es bei „Thief“ (aka „The Dark Project“) schon schlauere Gegner – passt sich die KI dem durchschnittlichen Spieler an?

OK, ja, KI – ein leidiges Problem, bei Blacklist wird dieses aber durch ein gelungenes Level-Design oftmals überdeckt und das ist auch gut so, fordernd, abwechslungsreich. Das sekundengenaue Timing beim Kill, das Fortschleppen der Leichen, die nervigen Hunde, die Spezialeinheiten, die im Dunkeln sehen können, die Dronen-Roboter, das Stören der Spezial-Brille durch Techniker, die Überwachungskameras, die vielfältigen Szenarien (inkl. Guantanamo Bay!) – Blacklist mach hier so vieles richtig, wie kaum ein Spiel in den letzten Jahren und verdient hier mal ganz klar ein Lob. Die anpassbare Ausrüstung, die technischen Gimmicks, die sogar sinnvoll einzusetzen sind, die Laufwege der Gegner, die Deckungsmöglichkeiten – it simply is very nice! Hier ist Blacklist auf dem Niveau des ersten Teils der Reihe, der ja damals Maßstäbe setzte, die Spielekonkurrenz hinter sich ließ und viele Fans gewann.

Sam Fisher ist zwar gealtert, hat mittlerweile mehr graue Haare als ich und sieht dank der Unreal3-Engine immer noch nicht brilliant aus, krackselt aber wieselflink an Wänden und Rohren herum, steht seinem jüngeren Ich in nichts nach und kann sogar noch mehr als je zuvor. Komplexität ist gern genommen, weil sie dem Spieler Möglichkeiten bietet, die in simplen Schlauch-Shootern wie CoD & Co. einfach nicht möglich sind. Blacklist fühlt sich gut an, auch wenn hier und da Animationen hölzern und wenig gelungen sind, Blacklist ist fordernd, Blacklist lässt den Spieler ins Spiel eintauchen, de-motiviert nicht nach 30 Minuten, wird nicht binnen dieser Zeit langweilig. Lässt man die wenig befriedigende, pathetische Story mal außen vor, überspringt man den Bonus-Punkte-Kram, die typischen Konsolen-Elemente,  so ist Blacklist der beste Stealth-Shooter seit Jahren, mit klarem Vorsprung vor „Hitman Absolution“.
Wenn die Programmierer nun noch die Sache mit dem Helm (Leute, Hitboxen müssen nicht würfelförmig sein!) und der Umgebungswahrnehmung der Gegner (das Blickfeld ist nicht bei 20 Grad in der Vertikalen begrenzt!) gescheit gestaltet hätten, könnte man sich sogar dazu hinreißen lassen, ein Sehr Gut als Bewertung zu vergeben.

JS für Orthy.de, 2013