Hinschauen, aber weghören und schnell abschalten

Es soll Bürger unseres fußballverrückten Landes geben, die bis jetzt nicht mitbekommen haben, dass gerade eines dieser Großereignisse abläuft, über welches man nicht nur spricht, sondern welches scheinbar sogar alle anderen Themen überlagert. Die Fan-Artikel-Industrie jubelt, die Medien auch, die Kommentatoren und Moderatoren sowieso und hier und da gibt es tatsächlich auch mal Lichtblicke zu begutachten, die so etwas berechtigte Freude aufkommen lassen. Dass aber schon wenige Millimeter überhaupt der Grasnabe das Niveau gen Erdkern rutscht, scheint irgendwie niemandem aufzufallen.

 

 

 

Der Philosoph M. Scholl, ARD-Experte neben G. Delling, sah im ersten Spiel gegen Portugal einen ganz starken Schweinsteiger und einen sehr guten Lahm. Der Rest der Nation sah einen knappen, etwas glücklichen 1:0 Sieg, bei dem Herr Lahm offensiv ein Totalausfall war und sich von Herrn Nani austanzen ließ.
Selbiger Scholl kritisierte einen Herrn M. Gomez, was Herrn Scholl hoch anzurechnen ist, denn den Siegtorschützen anzugehen, ist in Journalistenkreisen wie auch im TV (man beachte die gewollte Unterscheidung beider Kategorien!) verpöhnt, denn wer siegt, hat Recht. Ein Sturm der Entrüstung zog auf … „Wie kann man nur?!“ oder „Ist doch Blödsinn!“ bis hin zu „Warum hat das nicht mal jemand vorher gesagt?“ zogen sich die Aussagen und schon war der „Skandal“ perfekt. Thema #1 gefunden. Thema ausgeschlachtet.
Um eines festzuhalten: Herr Scholl hat Recht, denn Herr Gomez ist ein Spieler, der zwischenzeitlich komplett abtaucht, sich im Gras versteckt, sich unsichtbar machen kann und somit noch besser als Harry Potter ist, Der braucht dazu nämlich einen magischen Umhang, Herr Gomez nur magisches Haargel. Herr Gomez hat aber einen Vorteil: Er ist physisch sehr stark ist fackelt nicht lang, wenn sich eine Chance ergibt. Erhält er etwas Freiraum, knippst er – gegen eine durchaus offensiv ausgerichtete portugisische Mannschaft ist das keine schlechte Wahl des Trainers, Herrn J. Löw, gegen ein tiefestehendes Team hingegen wäre ein Herr Klose die bessere Wahl, denn dieser spielt mit, schafft auch Pässe über 10 Meter und wählt Laufwege, die der gegnerischen Abwehr einige Schwierigkeiten bereiten.

Als nun über die mangelhafte Offensive gesprochen wurde, mal kritisch wie bei Herrn Scholl, mal gewohnt inhaltlos wie bei Herrn O. Kahn (Eier-Experte beim ZDF) und Frau K. Müller-Hohenstein, wäre es eigentlich an der Zeit gewesen, eine simple Rechnung aufzumachen. Dies aber liegt dem Deutschen Medienprofi nicht, weshalb er auf folgende Erkenntnis nicht stieß:
11 Spieler
– einen abgetauchten Gomez
– einen sehr zurückhaltenden Schweinsteiger
– einen Rückpasser Podolski
– einen Özil, der 4 Gegner vor der Nase hat
– einen Müller, der nicht in Form ist
– einen Khedira, der im entscheidenen Moment patzt
– die 4 aus der Abwehr
– Torwat
= 0,0 Offensive

Und wa wären wir auch schon beim Kernproblem: Herr L. Podolski.
Vor Jahren war Poldi ein aggressiver, mutiger Spieler, der mit seinen strammen Linksfußschüssen die Gegner unter Druck setzte und ein ums andere Mal den Ball ins Netz hämmerte. So kennen wir Poldi, so mochten wir ihn, doch so ist er nicht mehr. Poldi ist jetzt Herr Podolski und nur noch Ballast für das Team.

Szenario 1: Schneller Gegenstoß
Podolski rennt mit, bekommt den Ball, schießt meilenweit am Tort vorbei.

Szenario 2: die gegnerische Abwehr steht
Podolski bekommt den Ball, spielt ihn umgehend zurück. Raumgewinn: 0. Torgefahr: 0.

Szenario 3: Abpraller / 2. Ball
Es gibt keine reale Chance, Podolski sieht aber eine, schießt meilenweit am Tort vorbei.

Szenario 4: Raum ist da, wenn ein Gegner umspielt werden würde
Podolski bekommt den Ball, scheut das Duell mit dem Gegner, spielt den Ball zurück, die Abwehr formiert sich, Platz ist nicht mehr da.

Szenario #5: Podolski kann nicht seinen linken Fuß einsetzen
Ürgs!

Folge: Podolski wird kaum angespielt und wenn doch, wissen die Mitspieler, dass es die falsche Entscheidung war.

Seit knapp 2 Jahren gibt es einen Herrn Schürrle, er kam groß in Mainz heraus, fügte sich super ins Nationalteam ein, auch wenn natürlich nicht alles gelang, so zeigte er oft seine Technik, seinen Einsatz, sein gutes Defensivverhalten und sogar in der miesen Vorbereitung auf die EM immer wieder, dass er wirklich torgefährlich ist, auch wenn die Saison bei Bayer Leverkusen eher enttäuschend verlief. Doch Herr Schürrle hat ein Problem: Herr Löw nämlich hält an Herrn Podolski fest.
Als im ersten EM-Spiel die Verblüffung groß war, dass Herr Podolski nicht in der Kabine bleiben musste, konnte man dies als „letzte Chance“ werten. Als Herr Podolski im 2. Spiel in der Starelf stand, konnte man dies als „Verwechslung“ werten. Als Herr Podolski abermals nicht in der Kabine bleiben musste, konnte man dies als „sehr seltsame Entscheidung“ werten. Wenn Herr Podolski nun aber auch gegen die Dänen randarf, kann, nein MUSS man dies als schweren Fehler werten.  Und was würden Scholl, Delling, K. M-H. und der Titan sagen? Scholl würde etwas granteln, Delling abermals erwähnen, dass Löw Herrn Podolski durchaus kritisch sieht und K. M-H. würde Kahn flüstern, dass die Entscheidung schon etwas seltsam anmute, woraufhin Herr Kahn sagen würde, dass die Entscheidung schon etwas seltsam sein.

Statt Herrn Schürrle zu bringen, überraschte Herr Löw in beiden Spielen mit der Personalie Kroos, ein Herr, der aller 4 oder 5 Spiele mal was zeigt, sonst aber „stets engagiert“ auf dem Rasen verpufft wie ein Occupy-Wallstreet-Gebrüll mitten in der Wüste Gobi. Eigentlich müsste Herr Scholl mal was zu Herrn Kroos sagen, etwas in der Art „Ja, talentierter Typ, aber halt nicht konstant und daher keine sichere Nummer für ein Team, halt so wie ich in meiner Karriere. Gelobt, aber letztlich weit unter den Möglichkeiten geblieben.“, doch hierzu müsste Herr Scholl Einsicht zeigen, sowas gefällt ihm aber nicht.

Als das deutsche Team zwischenzeitlich gegen vollkommen zu Unrecht auf Platz 2 der FIFA-Weltgrangliste stehende Niederländer das Spiel dominierte, Herr Schweinsteiger einen  simplen 10-Meter-Pass auf Herrn Gomez spielte und dieser unbedrängt zum Torabschluss kam, worauf hin von „Weltklassepass“ und „eisikalt verwandelt“ die Rede war, und bald schon das 3:0-Fest im Testspiel vom Herbst in die Erinnerung stieg, kam nur ein mal kurz die Info hervor, dass Herr Löw am Spielfeldrande nicht ganz so zufrieden schien. Dass das dt. Team die Freiräume kaum nutzte, Chancen liegen lies, Pässe verschleuderte und nicht nach 60 Minuten schon mit 4 oder 5 zu Null führte, wurde abgetan. Kritik am Führenden ist eben auch nicht unbedingt des Deutschen liebste Taktik.

Eigentlich müsste Herr Löw im letzten Vorrundenspiel auch mal Herrn Reuss oder Herrn Götze bringen, zwei Spieler, die im Gegensatz zu Kross, Müller und Podolski Rückenwind haben, gestärkt durch Erfolge und die eigene Spielweise nicht in die seichten Fahrwasser der Vizetitelsammlung- und Abstiegsgefühle geraten, doch das wird Herr Löw nicht machen, denn dieser sieht Erfahrung als enorm wichtig an.

Als ein durchwachsen spielendes russisches Team unterirdisch spielende Tschechen mit 4:1 besiegte, dauert es nicht lang, bi eins „damit ist der Favoritenkreis erweitert“ zu hören war.

Als ein aufopferungsvoll kämpfendes italienisches Team dem Welt- und Europameister aus Spanien ein 1:1 abrang, dauerte es nicht lang bis ein „nun wird sich die Systemfrage in Spanien stellen“ zu hören war.

Als die Three Lions am gestrigen Abend Schweden 3:2 besiegten, fragte sich der Kommentator, Herr Gottlob, ob das Aufholen des Rückstandes und das „geniale“ Siegtor nicht eine Art Auferstehung des geschundenen englischen Fußballs sind. Herr Scholl und Herr Delling lobten das englische Team, von einem Spektakel war die Rede, von den unglaublichen Unzulänglichkeiten beider Mannschaften leider nicht. Personenkult im Ibrahimovicz und Mellberg statt Qualitätsanalyse. Allein Herr Scholl wusste zu berichten, dass zwei 4-4-2-Formationen für wenig Freiräume auf dem Platz sorgen – na immerhin!

Ob Frau „Innerer Reichsparteitag“ K. M-H und Herr „Ich-wiederhole-die-Frage-einfach-und-stelle-es-als-Antwort-hin“ Kahn heute Abend auch wieder mit ihren fachlich-fundierten, kritischen, detailreichen Rededuellen überzeugen können, weiß ich natürlich nicht, aber ich sage mal ganz spontan: Herrgott, lob ich mir die Deutschen Fußballexperten!

 

JS für Orthy.de, C2012