Microsoft in der Statistikfalle

Das Entsetzen war groß, als im Rahmen der Win8 Developers Preview erstmals die Metro-Oberfläche von Jedermann benutzt werden konnte. Zuvor veröffentliche Screenshotes und Videos hatten diesen Effekt nicht, einfach weil viele Anwender sich nicht vorstellen konnten, was diese seltsame Oberfläche bedeutet und wie sie sich benutzen lassen sollen würde – ein revolutionärer Schritt bedarf eben immer einer gewissen Verarbeitungszeit derer, welche die Revolution nicht forcierten, aber davon betroffen sein werden. Nun zeigt sich, dass der Grund für Metro ein ganz simpler wie falscher und klassischer ist.

Steven Sinofsky, Präsident der Windows-Abteilung,  tat kürzlich kund, weshalb die Abkehr vom „alten Starmenü“ so nötig geworden sei: Platzprobleme & Scrollen im Menü seien aufgrund der Vielzahl von installierten Programmen nur mit der Metro-Oberfläche in den Griff zu bekommen. Durchschnittiche 57 Programme wären heutzutage auf einem Windows-Rechner installiert und das Startmenü damit einfach überfordert.

Diese Aussage muss man erst einmal verdauen, dann aber stellen sich schnell vier Fragen:
1. Ist Sinofsky einfach nur unfähig Ordnung zu halten?
2. Wird jedes installiertes Prpgramm andauernd benutzt, sodass es auf dem Desktop zu finden sein muss?
3. Sind die überflüssigen Programme, die von Windows automatisch installiert werden, einberechnet?
4. Ist Sinofskys Aussage nicht einfach nur ein äußerst peinlicher Versuch, Metro zu rechtfertigen?

Die erste Frage kann man schwerlich beantworten, bei der letzten darf man aber sich ein lautes JA! in den Raum werfen.

Natürlich ist nicht bekannt, wie Sinofsky auf die imponierende Zahl von 57 Programmen kommt, aber Schuld hieran ist Microsoft auf jeden Fall auch. Installiert man Win7 oder Vista und auch in gewisser Weise das alte Win XP, so sind zahlreiche Anwendungen gleich mit an Bord. Viele davon braucht der „normale“ Anwender nicht und Dopplungen und sogar Trippelungen gibt’s obendrein: Mediaplayer & IE als Paradebeispiele in Starmenü und Schnellstartleiste. Unordnung wird zudem von Hause aus produziert, denn Office sorgt für weitere Dopplungen. Dazu kommen viele Programme von anderen Herstellern, die sich liebend gern im Starmenü, auf dem Desktop und im Startmenü einfinden und dort nicht einfach so, als simpler Link, sondern gleich noch mit Link zur Homepage, mit Hilfe- und Lies-mich-Info – kurzum: es werden Verknüpfungen gesetzt, die keiner braucht, die aber Platz fressen. Selbst bei langjährigen Nutzer, die nicht als Frischling oder Chaot bezeichnet werden können, bläht sich das Startmenü dramatisch auf, obwohl das Aufräumen dank Drag-n-Drop herrlich einfach ist, obwohl jeder befähigt sein sollte, sich auszusuchen, wo er eine Verknüpfung haben möchte, obwohl Windows ja prinzipiell 4 Möglichkeiten bietet. 4? Ja, 4, denn das System-Tray ist auch noch da, für Firewall, Virenscanner, ATI TrayTools, Deamon-Tools z.B., die überhaupt keine Verknüpfung irgendwo brauchen, denn sie laufen ja sowieso.

MS schneidet sich aber seit Vista ins eigene Fleisch und auch bei Win7 lernte man nichts dazu: die Schnellstartleiste wurde nämlich verbannt, was eine unglaublich dumme Idee darstellt, denn gerade das dortige Einbringen von Verknüpfungen, die sich so und so mit einem Klick starten lassen, ist an Komfort kaum zu toppen. Die 4 bis 8 am häufigsten benutzten Programme (Browser, Mediaplayer, Bildbearbeitunsprogramm, Desktop-Anzeigen, dazu ein Link zum Download-Ordner usw.) bringt man am besten genau dort unter – platzsparend, übersichtlich undindividuell. Zusammen mit den 4 bis 6 Standardprogrammen im System-Tray kommt man ganz ohne Startmenü und Desktopverknüpfungen schon auf 8 bis 14 Programme – und nun die Quizfrage: Wie viel mehr nutzt der Durchschnittsuser überhaupt? 5? 10? 20? Dafür ist Platz mehr als genug im Startmenü und auf dem Desktop, samt Wallpaper und Jumplists (wenn man sie denn mag). Man kann auch ganz gemütlich einen Ordner auf dem Desktop erstellen und dort hinein Verknüpfungen packen, z.B. das Dutzend Benchmark- und Testprogramme, welche aber nur die Freaks nutzen – vor allem aber eben nicht halbstündlich oder täglich. Genau da liegt ja der Sinn der Ordnung und genau hier hat MS einfach in eine komplett falsche Richtung gedacht. Die neue, „verbesserte“ Version der Metro-Oberfläche bietet eine Gruppierung und  eine farbliche Gestaltung an, doch MS macht schon wieder den gleichen Fehler:  Wie oft greift man bitteschön bei Office auf die Spracheinstellung zu? Wozu also den Link dafür mitten auf dem Desktop? Welcher Privantanwender nutze bitte InDesign? Oder einen SQL-Server? Und was muss man studiert haben oder wie lange meditieren,  um 48 Icons auf dem Desktop als „übersichtlich“ zu emfindnen? Welcher Anwender will oder muss denn stets und ständig auf 30 Programme zugreifen können? Selbst Grafiker, die permanent mit Photoshop, InDesign, Bildarchiven und PDF-Tools arbeiten, brauchen sowas nicht!

Auf kleinere Bildschirme passt das alles gar nicht, große Bildschirme weisen enorme Lücken auf oder aber alles rückt sehr nah zusammen. Un mit einer neuen Version eines Prorgramms besteht stets die Gefahr, dass die Icons sich ändern, wodurch schnelle Arbeitsabläufe aufgrund des Bruchs mit gewohnten Icons gestört werden. Der Wegfall des Wallpapers ist da nur noch das i-Tüpfelchen.

Microsoft steckt in der Klemme, in einer selbstgeschaffenen. Die Dialektik, geboren aus dem Dilemma, dem Profi zu wenig zuzutrauen, dem Frischling dafür aber zu viel, beiden dann auch die Freiheiten zu nehmen und auf jene Deppen zu hören, die keine Ordnung halten können, gilt es aufzulösen – allein der Glaube an Einsicht oder das einsetzende Denken bei MS fehlt mir. Die Entwicklung hin zu einer immer mehr von der grafischen Gestaltung geprägten Oberfläche ist seit mittlerweile 15 Jahren zu verfolgen. Große Buttons, Vorschaufenster, viele Freiräume, der Wegfall einer individuellen Installation des Betriebssystems und somit der Schaffung einer Ordnung, die auf Ballast verzichtet – ach, die Reihe an Idiotien ist lang und wird mit Metro ihren vorläufigen Höhepunkt erleben. Spielerei statt Produktivität, das Motto von Apple seit Jahren, sorgt dafür, dass dieVerspielten gewinnen, doch beim Spielen kann man sich eben auch verzocken!

JS für Orthy.de, C2011